Aquarell 2002
30 x 40 cm
Gianna Nannino – Zeit interview 24. Oktober 2002 14:00 Uhr
GIANNA NANNINI
Ich würde auch Berlusconi in meine Traumband aufnehmen. Wenn beim Konzert der Sound ausfällt, würde er das Publikum bei totaler Stille zu überzeugen versuchen, dass die Musik doch noch zu hören ist
Neulich habe ich
von Silvio Berlusconi geträumt, Italiens Regierungschef. Das hat mich irritiert. Ich habe sonst nie Albträume. Keine Monster, keine Hexen, kein Berlusconi.
In der Regel habe ich angenehme, oft aufregende, immer aber entspannende Träume. Ich weiß nicht mehr, was ich am Abend zuvor gegessen hatte, als sich Berlusconi in jener Nacht in meinen Traum
hineinzwängte.
Vielleicht war ich übermäßig angespannt, weil meine Tournee begann.
Vielleicht war ich aus irgendeinem Grund schlecht drauf, und Berlusconi symbolisierte sozusagen die Fleisch gewordene Unzufriedenheit. Ich möchte das hier jetzt auch nicht weiter auswalzen oder mich einer tiefenpsychologischen Analyse unterziehen. Es versteht sich von selbst, dass ich in jener Nacht einen unruhigen Schlaf hatte.
Immerhin wurde Berlusconi in meinem Traum einigermaßen zurechtgestutzt. Er war Souffleur eines Theaterstücks, das von der Zukunft der Nation handelte.
Doch niemand konnte ihn hören. Er gestikulierte, dirigierte, gab Anweisungen.
Aber alle ignorierten ihn. Gewiss, das war vielleicht ein Wunschtraum. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Es geht in Italien heute nicht mehr so sehr um rechte oder linke Politik, um konservative oder progressive Ideen, um Katholiken und Antiklerikale. Es geht ums Grundsätzliche: die Demokratie.
Stück um Stück wird sie demontiert. Berlusconi versucht, maßgeschneiderte Gesetze durchzusetzen, die ihn vor der Justiz schützen sollen. Das Gericht inMailand wird entscheiden müssen, ob er Schmiergelder bezahlt und römische Richter bestochen hat, um sein Geschäftsimperium aufzubauen. Sofern die Prozesse nicht per Dekret gestoppt werden.
Ich muss zugeben, dass sich Berlusconi relativ schnell aus meinem Traum zurückgezogen hat, als er merkte, dass ihn auf der Theaterbühne niemand ernst nahm. Das heißt: Weil alle ihn ernst nahmen, nahm ihn niemand ernst. Es ging bei diesem Traum um ein futuristisches Theaterstück, in dem Rückwärtsgewandte keinen Platz haben - noch nicht mal als stumme Souffleure. Denn eigentlich handelte das Stück, das mich durch den Schlaf schaukelte, von Europa. Von einem Europa ohne Waffen, ohne Atomenergie, ohne Diskriminierung. Ein Europa der Völker, nicht der Populisten.
Einheit durch Vielfalt lautete das Motto der italienischen Eurokommunisten, als sie zu Beginn der sechziger Jahre begannen, ihren eigenen Weg zum sozialistischen Nirwana zu suchen. Oder profaner: Sie wollten ein gemeinsames Haus errichten, in welchem unterschiedliche Mieter leben konnten. Die damaligen Bauherren sind zwar nie über das Kellergeschoss hinausgekommen.
Aber das Prinzip von KPI-Väterchen Togliatti war richtig. Kippt man den ideologischen Müll weg und füllt den Leitsatz der Eurokommunisten mit anderen Inhalten, dann haben wir das Leitmotiv von heute: Europa wächst nicht zusammen trotz, sondern dank der Multikulturalität - Einheit durch Vielfalt.
Ich verstehe, dass auch oder vor allem handfeste wirtschaftliche Interessen hinter dem europäischen Zusammenschluss stehen. Dennoch glaube ich, dass die eingeschlagene Europapolitik zu sehr von der Ökonomie bestimmt ist. Es wird zu viel über die Währungsunion geredet, über die Aufgaben der Zentralbank, die Inflationsraten der Mitgliedstaaten und zu wenig über die Menschen. Was sind ihre Hoffnungen, ihre Ängste, wie sieht ihre Zukunft aus? Die Antwort hängt nicht davon ab, ob man sein Toilettenpapier mit Lire, D-Mark oder mit Euro bezahlt. Entscheidend ist, wie wir miteinander umgehen, mit Menschen aus unserem Quartier und aus anderen Teilen der Welt. Es kann nicht sein, dass heute zig Millionen Frauen, Männer und Kinder keinen Zugang zu Trinkwasser haben oder nur zu verseuchten Pfützen - weil wir wieder irgendwo ein paar Chemiefässer entleert oder ein paar Atomtests durchgeführt haben.
Ich bewundere das Engagement all jener internationalen Umweltschutz- und Menschenrechtsorganisationen, die den Kern der Sache erkannt haben. Dass es nämlich unveräußerbare Werte gibt, die das menschliche Sein ausmachen und die es unter allen Umständen zu schützen gilt. Natürlich geschehen immer wieder Fehler, mögen Vereinzelte über das Ziel hinausschießen, aber immerhin schießen sie - eben nicht mit Maschinengewehren, sondern mit den Waffen der Zivilcourage und des Verantwortungsbewusstseins. Ich mache mir nichts vor, es wird lange dauern, bis wir eine entmilitarisierte Welt haben. Aber wir müssen es versuchen. Das Ziel ist die Anstrengung wert.
Vielleicht ist das der Grund, weshalb ich in der Regel wunderbare Träume habe. Es sind sehr futuristische Träume, wie gesagt, auch was das Outfit der handelnden Personen angelangt. Astronautenhelme, Silberoveralls, raketenbetriebenes Schuhwerk. Die Welt, in der ich mich im Traum bewege, ist allerdings eine archaische, eine unberührte: riesige Wälder, blaue Seen, bunte Wiesen. Oft sind es auch irgendwelche fernen Inseln, die ich mit ausgebreiteten Armen anfliege. Es ist ein wunderbares Gefühl, selbst fliegen zu können. Gern würde ich beim Singen abheben und über der Konzertbühne schweben. Ich habe es, außer im Traum, noch nie geschafft - und auch mit geschlossenen Augen gelingt es mir nicht immer. Vor großen Konzerten träume ich bisweilen, dass alles schief geht: Der Strom fällt aus, die Stimme versagt, die Flügel erschlaffen.
Wer weiß, ob Otto Schily ähnliche Angstträume hat, wenn er im Bundestag über wichtige Themen referieren muss. Als er vor ein paar Jahren hier bei uns in derToskana bei einem Neujahrsfest erschien, zu dem auch ich eingeladen war, machte er auf mich einen tollen Eindruck. Ich weiß nicht mehr, welchen Job er damals hatte. Ich kann auch nicht sagen, wie er heute als Innenminister so ist, ich verfolge die deutsche Politik zu wenig. Sicher kann er nicht für die Entmilitarisierung Europas sein, zumindest nicht offiziell. Also steht er zwangsläufig auf der anderen Seite der Barrikade. Und doch finde ich den Typen gut. Ich habe ihn als sehr umgänglichen und verantwortungsbewussten Menschen kennen gelernt.
Bei diesem Fest in der Toskana hat er Ragazzo dell'Europa gesungen. Nicht das war es aber, was mir am meisten an ihm gefallen hat, sondern die Tatsache, dass er sich wirklich als ein Junge Europas versteht.
Müsste ich eine fiktive Politband zusammenstellen, würde ich Otto Schily das Schlagzeug anvertrauen. Er wäre darin allerdings der einzige Politiker. Alle anderen Mitglieder meiner Traumband müssten aus der Kultur und aus der Wissenschaft stammen.
Am Bass hätte ich gern eine Frau wie die italienische Astrophysikerin Margherita Hack. Sie ist eine brillante Wissenschaftlerin und ein ebenso brillanter Mensch. Sie ist schon 80 und würde dank ihrer Lebenserfahrung und dank ihrer beneidenswerten Spaziergänge in der Welt der Sterne am Bass sicher für den richtigen Groove sorgen. Mithilfe ihrer Klänge würden auch wir die Sterne erblicken.
Wer sich wie Margherita mit dem Kosmos beschäftigt, der setzt einfach andere Prioritäten als jene, deren Welt am eigenen Gartenzaun aufhört. Es reichen ein paar Satellitenaufnahmen, um uns zu zeigen, wie winzig die Erdkugel im All erscheint. Und doch braucht es erstaunlicherweise immer wieder Leute wie Margherita Hack, die uns die Zerbrechlichkeit der Erde auch wissenschaftlich bestätigen müssen. Und selbst das reicht noch nicht, um die Produktion von Nuklearsprengköpfen zu stoppen. Obwohl wir schon längst genügend beisammen haben, um uns alle in die ewigen Jagdgründe zu führen.
Wahrscheinlich würde ich auch Leute wie Berlusconi in meine Traumband aufnehmen. Solche Typen sind hervorragende Verkäufer. Wenn bei einem Konzert einmal der Strom und somit der Sound ausfiele, sie würden das Publikum bei totaler Stille zu überzeugen versuchen, dass die Musik nach wie vor zu hören ist. Und dabei würden sie gleichzeitig Lollipops verkaufen mit dem Versprechen, dass man sofort viel besser hört, wenn man kräftig daran lutscht.
Aber Spaß beiseite: Ich würde gern alle in meine Traumwelt mitnehmen, auch jene, die heute noch mit geschlossenen Augen durch die Welt laufen. Wenn das nicht zu viel verlangt ist von einem einzigen Traum.